Tagebucheintrag, Mittwoch 16.10.2019

Die Regenzeit ist da! Wie gestern morgen regnet es auch heute in Strömen. Ein Stromausfall komplettiert die schwierige Lage. Auf den nachlassenden Regen reagiere ich sofort und verlasse mit meinem Plastikstuhl die Unterkunft.
In der Goldsmith Street entdecke ich ein verfallenes, traditionelles tamilisches Wohnhaus. Da es gerade nicht regnet, stelle ich meinen Stuhl kühn mitten auf die Straße und beginne mit meiner Zeichnung. Das zusammengefallene Ziegeldach lässt den Blick auf die Dachkonstruktion aus Bambusstämmen und die Ziegelsteinwände frei. Auf Nachfrage erfahre ich, dass dieses Haus nach dem verheerenden Tsunami im Jahr 2004 von den Bewohnern verlassen wurde.
Auch ich verlasse jetzt fluchtartig meinen Platz, weil die ersten Regentropfen auf mein Papier
fallen. Glücklicherweise entdecke ich in der Nähe die überdachte Einfahrt eines Wohnhauses, das nach dem Tsunami gebaut wurde. Von hier kann ich entspannt und von einer guten Position aus zeichnen. Von Minute zu Minute wird der Regen intensiver und ich rutsche mit meinem Stuhl immer weiter in die Garage hinein. Trotz des heftigen Schauers läuft eine betagte Fischver-
käuferin unbeeindruckt auf dem Weg vorbei und preist laut rufend ihre Ware an.
Wie in einer Art Symbiose unterhalte ich mit meiner Anwesenheit die Bewohner des Hauses und erhalte dafür einen trockenen Platz zum Zeichnen. Dabei lerne ich auch den Nachbarn kennen, der aus Nepal stammt. Vor kurzer Zeit hat er sich ein Haus direkt am Meer gekauft, angstfrei vor einem weiteren Tsunami. Während unseres Gesprächs entdecke ich in der Nähe einen Pfau, der im Regen geschützt auf einem Blatt einer groß gewachsenen Kokospalme steht.
Auf dem Rückweg erkenne ich die Goldsmith Street nicht wieder. Die Straße hat sich jetzt zu einem „Goldsmith-Stausee“ verändert und ich stapfe vorsichtig durch knöcheltiefes Wasser.

Am Nachmittag laufe ich zum Masilamaniswarar Shiva-Tempel, um dort meine Zeichnung fortzusetzen. Ein Teil der Tempelanlage wurde im Jahre 1305 erbaut und ist bekannt für seine einzigartigen architektonischen Elemente. Nur wenige Tempel im Süden Indiens liegen wir er direkt an der Küste.
Wieder stehe ich vor dem geschlossenen Eisentor, aber diesmal ohne ein Vorhängeschloss. Ich überdenke meine Handlungsoptionen. Mein Drang, hier zu zeichnen, ist einfach zu stark. Von außen öffne ich den Verriegelungsbolzen, ziehe meine Schuhe aus und betrete mit klopfendem Herzen die Tempelanlage. Bevor ich mit meiner Arbeit beginne, versuche ich, den Tempelwächter um Erlaubnis zu bitten. Mein „Hello Sir“ weckt den auf dem gefliesten Boden neben den Hunden schlafenden Mann nicht auf. Erst nach einem erneuten Versuch, öffnet er seine Augen und ich erkläre mit Handzeichen mein Anliegen. Verschlafen gibt er mir seine Erlaubnis.

Während des Zeichnens genieße ich die entspannte Atmosphäre und vergesse die Aufregung
der letzten Tage. Durch die Luft schwirren große Schmetterlinge und Libellen. Aus der Ferne rauscht das Meer. Diese Traumwelt unterbrechen zwei freche Ziegen, die sich durch ein kleines Loch im Zaun gedrängt haben und nun hastig das saftige Gras auf einer Wiese fressen.
Die Tempelhunde zögern nicht lange und sorgen nach kurzer Zeit für Ordnung .
Durch einen plötzlichen Regenguss fliehe ich zur zentralen Pagode und setze mich zu den Hunden und dem Tempelwächter. Hier führe ich meine Arbeit fort.

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